Jeder kennt diese Bilder von Menschen, die auf dem Markusplatz in Venedig von Tauben umringt und umflattert sind. Hunderte, ja tausende waren es, die dem einen zur Freude und der anderen zur Last wurden. Nun war ich nach knapp 40 Jahren mal wieder in Venedig. Und plötzlich stelle ich mir die Frage: „Wo sind eigentlich die Tauben geblieben?“
Diese Frage rührt tief an der Seele dieser Stadt, die in den letzten Jahren weniger an Tauben und Hochwassern, denn an Touristen litt. Immer wieder erreichen uns Alarmmeldungen, dass die Stadt unbezahlbar geworden ist und eigentlich überhaupt kein Venezianer mehr hier wohnt. Es gäbe keine Supermärkte mehr und die Bars und Restaurants seien überteuerte Touristen-Fallen. Mit dieser Vorstellung bin auch ich in diesem Herbst in die Lagunenstadt eingelaufen. Wie nur wenige hatte ich das Privileg mit dem eigenen (wenn auch gecharterten) Boot einzulaufen und so die Stadt zu erreichen, wie man eigentlich jede Hafenstadt erreichen sollte: Über das Wasser. Das Willkommen im Club de Vela auf San Giorgio gegenüber vom Markusplatz war freundlich. Die Umgebung atemberaubend. Der Preis für den Liegeplatz erstaunlich bescheiden, wenn man bedenkt, welche Preise die gegenüberliegenden Hotels aufrufen. Nun gut, dort läuft man keine 10 Minuten bis zur Dusche (wenn man sich überhaupt im Zimmer umdrehen kann). Dafür ist man aber Abends auch nicht so von Ruhe und Beschaulichkeit umgeben und den Blick auf die Stadt hat man auch besser von hier aus.
Wir waren also glücklich, hier angekommen zu sein und stürzten uns anderntags in den sprichwörtlichen Trubel rund um den Markusplatz und den Canale Grande. Und ja, es war schon ein Kulturschock. Massen schoben sich über die Brücke vor dem Dogenpalast, um ein Selfie vor der Seufzerbrücke zu machen, auf dem neben dem Selfiemacher mindestens drei andere Selfiemacher zu sehen waren. Auf dem Markusplatz selbst war kaum ein Durchkommen. Schirme und Fähnchen trennten die Besuchergruppen voneinander. Zum Glück haben heute die meisten Touristen einen Knopf im Ohr, sonst kämen die Stadtführer kaum gegen den Lärm an.
Ein wenig geschockt suchten wir uns den Weg in die Seitenstraßen und Gassen. Ich erinnerte mich, dass es dort vor 40 Jahren ruhig zuging und man schöne beschauliche Ecken finden konnte. Und siehe da, dem war auch jetzt noch so. Plötzlich öffneten sich zeitlose Ansichten, Menschen sprachen Italienisch. Sie saßen in Bars und tranken Select Sprizz. Und sie kauften in kleinen Läden und Supermärkten ein. In jeder Bar und in jeden Café in das wir kamen, gab es ganz besondere kleine Mitarbeiter. Es waren die Tauben! Diese flogen nicht etwa, wie andernorts die frechen Spatzen auf den Tischen herum. Nein, sie hielten sich auf dem Boden und hielten ihn unauffällig frei von Krümeln. Da wurde mir bewusst, dass ich auf dem Markusplatz so gut wie keine Taube mehr gesehen hatte. Was war geschehen?
So wie Mosé, als große Schleuse die Lagune vor Hochwasser bewahren soll, so bewahren die Touristen die Venezianer vor der Taubenplage. Denn seit der Markusplatz schwarz von Touristen ist, haben die Tiere überhaupt keinen Platz mehr dort! Stattdessen ziehen auch sie sich in die Seitenstraßen zurück und laben sich unauffällig an den Resten, die wir Menschen dort hinterlassen. Und so hat doch alles seine guten Aspekte. Wobei, etwas weniger Touristen könnten der Stadt nicht schaden, aber wer ist man, wenn man als Venedigbesucher selbst im Glashaus sitzt. Man hätte ja auch daran vorbeifahren können. Aber ich denke, alle 40 Jahre sollte es erlaubt sein.